„Ros Beiaard macht seine Runde – in der Stadt von Dendermonde.“ Unüberhörbar sind die Schlachtgesänge und das Loblied auf Pferd und Reiter. Auf die vier Haimonskinder und Ros Beiaard, ihr sagenhaftes Pferd. Auf die Helden eines Festes, das nur alle zehn Jahre stattfindet. „Seht, wie sie reiten! Sie sind die Schönsten im Land!“, tönt es aus Tausenden Kehlen.
Ros Beiaard ist das Wahrzeichen Dendermondes: ein riesiges Schlachtross, das traditionell nur alle zehn Jahre unterwegs ist. Wegen Corona mussten die Belgier jetzt zwei Jahre länger auf den Umgang des sagenumwobenen Pferdes warten. 2000 Kostümierte werden es am 29. Mai begleiten. Generationen von Künstlern ließen sich davon inspirieren: Verseschmiede und Prosadichter, mittelalterliche Schreiber und moderne Dramaturgen.
In der Gestalt des Pferdes verschmelzen Dichtung und Wahrheit, Weltliteratur und Volkserzählung. Die ersten Geschichten wurzeln im späten zwölften Jahrhundert in französischen Handschriften, die das Leben des Renaud de Montauban beschreiben: eines Ritters, der in Deutschland als Reinold von sich reden machte und in Italien als Räuber Rinaldo Theatergeschichte schrieb.
Ross und Reiter gehen auf den Sagenkreis um Karl den Großen zurück, ist sich die Forschung heute sicher. Der Frankenkaiser soll im Dauerstreit mit Aymon (Haimon) gelegen haben, der in manchen Versionen der Sage Herr von Dendermonde ist. Aymon hatte vier Söhne: Richart, Aalart, Guichart und Renaud. Zur Erhebung in den Ritterstand erhielt jedes dieser vier Haimonskinder ein Pferd. Renaud erhielt das stärkste: das schnaubende Riesenross Bayard (Beiaard), das alle Menschen fürchteten.
Schachspiel bei Karl dem Großen
Ein blutiger Kopf, den eine Gruppe Kostümierter beim Umgang mitschleppt, erinnert an den Weitergang der Geschichte: an ein großes Fest am Hofe Karls des Großen. Dessen Sohn Ludwig versuchte dort mit faulen Tricks, Renaud im Schachspiel zu besiegen. Der aber merkte das und enthauptete den Falschspieler. Zusammen mit seinen Brüdern, deren Pferde Karl in seinem Zorn töten ließ, floh Renaud nach Spanien – auf seinem Pferd Beiaard.
Der Kaiser wollte die Enthauptung seines Sohnes rächen: mit dem Tod der Haimonskinder. Zuletzt aber war er bereit, sie am Leben zu lassen, wenn der wichtigste Fluchthelfer, Ros Beiaard, tot wäre. In Dendermonde sollte das Pferd deshalb dort, wo die Dender in die Schelde mündet, ertränkt werden. Das Pferd trotzte selbst mit schwersten Mühlsteinen, die man ihm um den Hals hängte, dem nassen Tod. Zweimal schwamm es zu seinem Herrn ans Ufer zurück.
Stadtpatron in Dortmund
Im 15. Jahrhundert kam die Geschichte vom treuen Pferd und seinen tapferen Reitern als Prosatext unter die Leute. Deutsche Erzähler machten aus dem furchtlosen Helden Renaud einen Heiligen und verknüpften die Rittergeschichten mit der Reinoldslegende. Aus Renaud wurde ein frommer Mönch, der beim Bau der ersten Kölner Kirchen half, ein Wunderheiler, der schließlich in Dortmund seine letzte Ruhe fand. Dort wird Reinold bis heute als Stadtpatron verehrt.
1604 erschien die „Lustige historia von den vier Heymons-Kindern“: eine Volkserzählung, welche Literaten von Ludwig Tieck bis Karl Simrock zu Neuinterpretationen veranlasste. Zusammen mit der „Legenda Aurea“, dem populärsten Volksbuch des Mittelalters, zementierte das Buch den Ruhm des Rosses samt seiner vier Reiter.